Mailorder, Plattenladen und Label – Unrock war bzw. ist seit 30 Jahren all dies, in der Hauptsache betrieben durch Michael Stahl, dessen diverse Aktivitäten seit Jahrzehnten nicht nur die niederrheinische Provinz beleben, sondern auch Teil einer internationalen Underground-Infrastruktur sind.
Bei Unrock war und ist die Welt seit 30 Jahren zu Gast bei einem Freund obskurer und randständiger Künstler*innen und ihrer Musik. Zeit, einen Blick zurückzuwerfen, den prekären Stand der Dinge mit dem beizeiten durchaus eigenwilligen und meinungsstarken, aber immer leidenschaftlichen Michael Stahl zu diskutieren und über die Zukunft von Unrock zu spekulieren.
skug: Michael, Glückwunsch zu 30 Jahren Unrock! Was bewog dich 1992, einen Mailorder für Importschallplatten ins Leben zu rufen?
Michael Stahl: Dankeschön! Ich kann da nur aus den Tiefen der Erinnerung fabulieren, nach 30 Jahren muss das nicht unbedingt besonders viel mit der damaligen Realität zu tun haben. Ich war damals regelmäßig Begleiter von (meistens) US-Underground-Bands auf Tour in Europa und habe während und nach der Show deren Merchandise erledigt. Da sind eine Menge Platten im Laufe der Zeit bei mir hängengeblieben, Platten, welche die Bands nicht mehr zurück nach Übersee mitnehmen wollten. Daraus ist ein Sammelsurium entstanden, das ich immer mit auf den Merchandise-Tisch gestellt habe. Nebenbei habe ich natürlich Adressen von Interessierten in ganz Europa gesammelt. Schon damals war mir klar, und wurde mir ob der steigenden Nachfrage immer klarer, dass es in Europa Bedarf an obskuren Platten aus den USA gab, die aber niemand nach Europa lieferte. Irgendwann habe ich dann eine Kiste obskures Zeug bei Forced Exposure und Revolver, den zuständigen US-Vertrieben, bestellt und zum Katalog aufbereitet per Post an meine gesammelte Adressliste verschickt. Das passierte zunächst mit der Schreibmaschine, bis der erste PC einzog. Als das Ganze dann in den Monaten darauf einschlug, musste ich Freunde bitten, mir beim Packen und Verschicken von Paketen zu helfen. Das war die Geburtsstunde des Mailorders.
Wann und wieso hast du dich dazu entschieden, einen Laden zu eröffnen, noch dazu in einer Kleinstadt wie Krefeld? Du hättest ja auch weiterhin aus dem stillen Kämmerlein heraus arbeiten können?
Das hat sich im Grunde daraus ergeben, dass im stillen Kämmerlein einfach nicht mehr genug Platz war, ich aber welchen brauchte. Die Kosten für Lagerraum waren denen eines kleinen Ladenlokals ähnlich, da lag es nahe, den Vorteil zu nutzen, dass Leute vor Ort einfach mal zum Beschnuppern reinkommen konnten.
Beschnuppern ist ein gutes Stichwort, mit dem Laden kamen die Unrock-Instore-Gigs …
So einige Gestalten haben den Laden natürlich mit völlig falschen Erwartungen betreten, nämlich im Glauben, ein Mainstream-Sortiment vorzufinden. Die haben den Laden danach natürlich nie wieder betreten. Bei anderen hat er eine seltsame Neugier ausgelöst, auf ein Sortiment, aus dem sie nicht eine einzige Platte oder Musiker*innen kannten. Die Instore-Gigs waren ein willkommenes Mittel, den Laden bekannter zu machen, und haben eben auch Spaß gemacht. In einer Stadt wie Krefeld konnte man auch die Lokalpresse einspannen, dann mussten sie vielleicht nicht über das Jubiläum bei den Dackelzüchtern berichten. Es kamen über die Jahre unzählige internationale Musiker*innen nach Krefeld und zwischenzeitlich nach Essen, um Instore-Gigs zu spielen. Meine alte Freundin Carla Bozulich (Geraldine Fibbers, Evangelista) war die erste, die Liste der Folgenden ist lang. To name a few: Sunburned Hand of the Man, MV & EE, Marissa Nadler, Marshall Allen, Ava Mendoza, Jack Rose, Alan Bishop, Daniel Higgs, Richard Bishop, Matana Roberts, Paul Metzger, Samara Lubelski … Es war eine gute Adresse.
Eine Adresse, die viele denkwürdige Abende bescherte. Darüber hinaus hast du ja auch eine Vielzahl von Gigs u. a. in der Krefelder Kulturrampe, im Südbahnhof und in anderen Läden organisiert. Eine Zeit lang, das kann man so sagen, war Krefeld ein kleines Mekka für (oft in Deutschland exklusive) Underground-Gigs. Trotzdem war dann mit all dem irgendwann Schluss, auch der Plattenladen wurde geschlossen und Konzerte hast du auch keine mehr veranstaltet, sondern dich stattdessen auf die Arbeit mit dem Label konzentriert. Wie kam es dazu?
Das war eine bewegte Zeit. Wir haben mit einem ganz kleinen Kernteam und einigen Sympathisant*innen wirklich am Limit gearbeitet und es hat verdammt viel Spaß gemacht. Schlussendlich habe ich als Verantwortlicher die Reißleine gezogen, weil es finanziell nicht mehr verantwortbar war. Die Struktur, die ich in Krefeld und im Umland aufgebaut hatte, war nicht groß, nicht tragfähig genug, um den Laden und das »Hinterzimmer« (der Raum, in dem im letzten Unrock-Ladenlokal die Bühne beheimatet war) annähernd kostendeckend zu betreiben. Das Aus kam damals für diesen »inneren Kreis« sehr überraschend. Ich habe das in ein paar schlaflosen Nächten mit mir selber ausgemacht und dann quasi verkündet. Alle waren völlig konsterniert.
Die Stadt Krefeld hatte nicht verstanden, dass Krefeld auf gutem Weg war, zu einem Underground- und Avantgarde-Mekka zu avancieren, mit einer Strahlkraft weit über die Stadtgrenzen hinaus. Viele Musiker*innen, die damals regelmäßig kamen, waren ansonsten eher auf den Bühnen internationaler Metropolen zu Hause und weniger in der westdeutschen Provinz. Das Angebot war aber wohl viel zu progressiv und hat die Stadt und hiesige Szene schlicht überfordert, verstört und irritiert. Ich bezweifele auch stark, dass sich daran in der Zwischenzeit und für die Zukunft etwas geändert hat. Eine interessante Fußnote in diesem Zusammenhang ist, dass die Stadt Köln mich sehr großzügig bei der Ausrichtung der Feier zum 25-jährigen Jubiläum unterstützt hat, nicht aber meine Heimatstadt. Stattdessen glaubt man hier noch heute beharrlich an die Talente musizierender Lokalbands, wohlwissend, dass Glanz und Gloria dieser Local-Heroes und Provinz-Hipster kaum über die Stadtgrenzen hinausgelangen. Alles in allem musste ich realisieren, den Fehler gemacht zu haben, das absolut Richtige in der falschen Stadt versucht zu haben. Die anschließende Konzentration auf das Label war schlicht ortsunabhängig und deshalb geboten.
Aber noch ein Wort mit Blick auf die Verhältnisse, seit der Covid-19-Pandemie ist die politische Frage nach dem Stellenwert der kulturellen Bildung ja ohnehin aktueller denn je: Was will die Politik in die kulturelle Bildung der Bevölkerung investieren und welcher Gewinn ist erwartbar? Das ist eng miteinander verwoben. Ich bin häufig und gerne zu Gast bei unseren Nachbarn in Belgien und den Niederlanden, wo die Kulturförderung einen anderen Stellenwert einnimmt als in Deutschland. Kulturförderung hat dort dazu beigetragen, eine offenere und auch an Nischenthemen interessiertere Bevölkerung zu etablieren. Dort wird ein Interesse an kultureller Teilhabe durch viele Veranstaltungen aller Art früh geweckt, es wird investiert. Hierzulande sehe ich das nicht und befürchte, das wird dazu führen, dass uns über kurz oder lang der Boden wegbricht, weil niemand mehr kommt, kein Interesse mehr geweckt wird. Eine spezielle Form von Verarmung ist aus meiner Sicht dann der gesellschaftliche Preis für die stiefmütterliche Behandlung von vielen Kulturformen jenseits des Mainstreams. Die Vielfalt bleibt auf der Strecke.
Über das Label Unrock sind in den letzten zehn Jahren über 20 Tonträger erschienen. Auffällig ist die programmatische Nähe zu den Brüdern Alan und Richard Bishop. Kannst du erläutern, wie es dazu kam und – darüber hinaus – welche inhaltlichen Ziele du mit dem Label verfolgst?
Da kam eines zum anderen. Meine ersten Kontakte entstanden, als ich mir das teilweise obskurste Zeug, das ich damals für den Mailorder importiert hatte, anhörte. Die Sun City Girls, also die damalige Band der Bishops, ragten aus allem heraus. Sie waren unfassbar schräg und exotisch und hatten im Übermaß, was den meisten Bands ihrer Zeit fehlte. Sie hatten Talent, waren getrieben, voller Energie, und ihr musikalisches Vermögen fußte auf einem sehr soliden Fundament. Sie waren mitunter böse, nahmen kein Blatt vor den Mund und haben so manche Veranstaltung mit anderen Bands durch ihre kruden Ideen gesprengt. Als Alan und Rick dann auf Unrock-Bühnen gastierten, wurde schnell klar, dass wir eine Menge Gemeinsamkeiten haben und ich ihre Arbeit auf dem Label gerne dokumentieren wollte. Die beiden haben in mir jemanden, der in vielem like-minded ist, eine auf Gegenseitigkeit beruhende, völlige Verlässlichkeit bietet und ähnliche Ideen hat, wie sich der Produktionsprozess einer Platte gestalten kann und wie man es hinbekommt, am Ende ein Produkt in der Hand zu halten, mit dem alle Beteiligten zufrieden sind. (Die programmatische Nähe zu den Brüdern Bishop wird natürlich oft erwähnt im Zusammenhang mit Unrock, die überproportionale Präsenz von Sam Shalabi und Maurice Louca dagegen kaum.)
Neben den Arbeiten von Rick und Alan gibt es den anderen Ast, auf dem ich sitze. Musik aus der arabischen Welt, hybride, zwischen Welten wandelnde Produktionen reizen mich. Und ich lasse mich gerne auf Projekte ein, die finanziell risikobehaftet sind, die ich aber mit anderen Veröffentlichungen querfinanzieren kann. Anders hätte ich z. B. dem Sunn Trio um den genialen Joel Robinson in Europa kaum eine Bühne bieten können, oder Hayvanlar Alemi, Jane & The Magik Bananas, Shalabi Effect, Eyvind Kang, Tashi Dorji, A-Trio, Karkhana, Nadah El Shazly … Ganz wichtig ist mir aber zu betonen, dass wenigstens Peter Körfer, ein begnadeter Tontechniker, dessen Arbeit ganz andere Kaliber als ich ebenfalls zu schätzen wissen, und Philip Lethen, ein bekannter Fotograph und Grafiker, mich unerschütterlich seit Jahren unterstützen. Ohne die beiden wäre ich aufgeschmissen.
Trotzdem schaltest du mit dem Label nun wenigstens einen oder zwei Gänge zurück, warum?
Der Markt, nennen wir es einmal so, ist schwierig geworden heutzutage. Unrock ist kein Buchhalterlabel mit einer Schedule auf Jahre hinaus, dass von Agenten promoted wird, die im Hintergrund mit erkauften Reviews dafür sorgen, dass Wind unter die Flügel kommt, sprich Verkäufe angekurbelt werden. Und bei allem Verständnis dafür und der absoluten Berechtigung des Wunsches von Kundenseite werde ich mich auch nicht um Verkäufe über digitale Plattformen bemühen. Die Zukunft könnte nach nunmehr 30 Jahren so aussehen, dass wir uns sehr spontan vielleicht jedes Jahr mit einem Projekt melden, das ein bisschen umfangreicher ist als ein reguläres Album. Für 2023 haben wir eine LP in Planung, die mir persönlich ganz besonders am Herzen liegt, und 2024/2025 könnten, wenn irdische und kosmische Aspekte zueinander finden, Aufnahmen das Licht der Welt erblicken, die ich schon lange im Auge habe. Aber der Weg dahin ist unter gegenwärtigen Umständen möglicherweise ein sehr steiniger. Die Preise für Produktionen in den Presswerken haben sich seit der Pandemie signifikant erhöht, die Produktionszeit sich extrem verlängert, während sich gleichzeitig die Kosten für die Logistik (Transport) ebenfalls vervielfacht haben. Am Ende gehen wir mit jeder neuen Veröffentlichung ins Risiko, d. h. finanziell in Vorlage, und müssen berücksichtigen, dass auch der Endkunde, Schallplatten-Liebhaber*innen und Dedicated Follower sich als struppig outen, die Zeche mit zu bezahlen, vor dem Hintergrund steigender Lebenshaltungskosten.
Was auch immer die Zukunft bringen mag und wann – apropos Herzensangelegenheiten: Wenn du zurückblickst auf die bisherigen Veröffentlichungen, kannst du sagen, welche dir besonders nahe sind? Ich weiß, das mag etwas unfair gefragt sein, weil dir vielleicht alle lieb und teuer sind, aber vielleicht kannst du für Einsteiger*innen in den Unrock-Kosmos drei, vier Veröffentlichungen nennen, um sich zu orientieren?
Also, ich weiß nicht, ob sie mir alle lieb und teuer sind, ich habe eher zu jeder Veröffentlichung ein sehr bestimmtes Gefühl, das sich aus vielen Aspekten zusammensetzt, die sicher eher andere sind als die der Hörer*innen: Wie ist der Produktionsprozess gewesen, wie ist die Platte von der Tonqualität geworden, hat sie die Erwartungen erfüllt etc. Es ist immer ein weiter Weg von der Idee bis zu dem Moment, wo die Platte aus dem Presswerk kommt. Hier drei, vier Platten zu nennen, stellt andere in den Hintergrund, wohin sie nicht gehören. Aber vielleicht kannst du damit was anfangen: Die Sir Richard Bishop – »Road To Siam« 10″ zeigt großartig Richards individuelle Qualitäten als Musiker. »Mekong« darauf ist sicherlich eines der besten Stücke, die auf Unrock-Alben zu finden sind. Sam Shalabi/Alan Bishop – »Mother Of All Sinners« ist das völlig verwilderte Prequel zum gemeinsamen Gruppen-Projekt Dwarfs of East Agouza. Einfach eine großartig verquere Underground-Platte, die in jeder Hinsicht alle meine Erwartungen übertroffen hat. Sir Richard Bishop & W. David Oliphant/Karkhana with Nadah El Shazly – »Carte Blanche« ist für mich ein Hit und die bestverkaufte Unrock-LP bisher. Karkhana – »Al Dar Al Hamra« haben Peter Körfer und ich bei einem Arbeitsausflug im OCCII von Sjoerd Stolk in Amsterdam gemeinsam aufgenommen, die Zeit werde ich nicht vergessen. Sir Richard Bishop/Ava Mendoza – »Ivory Tower« ist komplett im »Ivory Tower« entstanden, das ist der interne Name vom Unrock-»Hauptquartier«, wo immer es gerade ist. Peter und ich haben die Seite von Ava an einem Tag dort mit ihr aufgenommen. Die Seite von Richard beinhaltet die eher jugendfreien Auszüge eines Konzertes, das Richard dort für den inneren Kreis als Weihnachtsfeier gespielt hat. Sehr intim.
Dann wäre da noch Sunn Trio/Sam Shalabi – »Trippin’ On Coleman«, wo sich zwei fabelhafte Musiker dem gleichen Thema (Ornette Colemans »Lonely Woman«) widmen und mit völlig verschiedenen Ergebnissen mich komplett überzeugen. Shalabi Effect – »Friends Of The Prophet 6« ist eine sehr psychedelische Platte, die auf ungewöhnliche Weise westliche und östliche Musik miteinander verbindet. Möglicherweise schwer zu antizipieren, wenn einem das erforderliche Grundwissen über traditionelle arabische Musiken und im Besonderen über den Einfluss von Free Jazz auf die Entwicklungen dort fehlt. Brothers Unconnected – »Unrock The House« basiert auf einer Live-Aufnahme aus Krefeld. Eine Tribut-Show für Sun City Girls und die Musik ihres verstorbenen Drummers Charles Gocher von epischem Ausmaß. Ganz generell wären noch Karkhana als Band mehr als eine Randnotiz wert. Dieses mediterrane Ensemble ist ein leuchtender Stern im kleinen Unrock-Universum. Multiple musikalische Talente erschaffen rasante, moderne Soundscapes, die in keine Schublade passen, die nicht Jazz und niemals Rock sind, aber Unrock sozusagen. Und da wären da noch A-Trio, schon deshalb, weil ich sie für die aufregendste aktuelle frei improvisierende Band halte, die mir bekannt ist. Ich habe sie auf ihrer Jubiläumstour gesehen, und es war ein Erlebnis der ganz besonderen Art, in welcher Weise sie miteinander auf der Bühne kommunizieren und bar jeder Elektronik einen unglaublich dichten Sound zaubern. Ich gehe gefühlt seit 50 Jahren zu Konzerten, aber das war Top 3.
Veröffentlichungen zum Jubiläum
Soweit zur Geschichte des Mailorders, Ladens und Labels Unrock, das sein diesjähriges Jubiläum mit der Veröffentlichung von drei exklusiven Singles begeht. Kleine Veröffentlichungen, die dem Geist des Labels hundertprozentig entsprechen. Die Singles von Alvarius B, Sir Richard Bishop und den Dwarfs of East Agouza decken das oben angesprochene musikalische Spektrum des Labels ab, reichen von den doppelbödigen Singer-Songwriter-Qualitäten Alan Bishops über den musikalischen Exotismus Sir Richard Bishops bis zu den improvisierenden Talenten der Dwarfs of East Agouza. Das gewählte Format passt zur Lage. Die Single, das Kleinod, die verkörperte Nische: hartnäckig, widerständig und nicht kleinzukriegen. Der fortschreitenden Marginalisierung nicht provinzieller kultureller Umtriebe zum Trotz hält Unrock die Fahne für internationale kulturelle Zusammenarbeiten hoch! Die Welt ist noch da draußen!